Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Gleichstellungsgebots im Grundgesetz moniert der Deutsche Frauenrat das schleppende Tempo in der Geschlechtergleichstellung. Seit dem Inkrafttreten sind die Regierungen ihrem verfassungsgemäßen Auftrag so unzureichend nachgekommen, dass sich die Versäumnisse in den aktuell krisenhaften Zeiten zu gravierenden Rückschritten in der Gleichberechtigung von Frauen auszuwachsen drohen.
„Gleichstellungspolitik hat sich in den letzten 30 Jahren vom Gedöns zum Lippenbekenntnis gemausert. Doch bisher hat keine Regierung Gleichstellungspolitik so betrieben, wie es unser Grundgesetz verlangt. Die Lösung grundlegender struktureller Probleme, die Frauen täglich herausfordern, wie die eklatante Sorgelücke, fehlende Entgeltgleichheit, höhere Armutsbetroffenheit oder mangelnder Gewaltschutz wird politisch nicht angegangen – dabei sind alle Maßnahmen zu ihrer Überwindung seit Jahrzehnten bekannt,“ sagt die Vorsitzende des Deutschen Frauenrats, Dr. Beate von Miquel.
„Zwar zeugte der umfangreiche frauenpolitische Forderungskatalog im Koalitionsvertrag der Ampelregierung von Verständnis für die prekäre Lage, in der sich Frauen nach multiplen Krisen wiederfinden. Doch statt den Backlash für Frauenrechte abzuwenden, hat die Ampelregierung wie auch ihre Vorgänger der Mut verlassen. Sich in krisenhaften Zeiten vermeintlich wichtigeren Themen zuzuwenden, ist ein fataler Irrglaube: Gleichstellung ist kein nice-to-have, sie ist eine zentrale Antwort auf die Krisen unserer Zeit. Gleichstellung ist der Schlüssel, den Alltag von Frauen und Familien im Land zu verbessern. Das muss die nächste Regierung verstehen und damit ihrem Verfassungsauftrag endlich nachkommen,“ so von Miquel weiter.
Durch die Jahrzehnte haben Regierungen versäumt, Strukturen zu schaffen, die Gleichstellung grundlegend verankern, wie eine verbindliche Gleichstellungsstrategie, einen Gleichstellungscheck für Gesetze oder Gender Budgeting für öffentliche Haushalte. Auch im zentralen Bereich der ökonomischen Eigenständigkeit von Frauen wurden zu wenige Maßnahmen ergriffen, die eine faire Verteilung von Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern etabliert hätte, sodass Frauen noch immer den Löwenanteil der Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen auf Kosten ihrer Erwerbsarbeit stemmen. Noch immer verdienen Frauen weniger, sind häufiger armutsbetroffen, werden im Steuerrecht benachteiligt und finden keinen ausreichenden Schutz vor Gewalt. Zu den jüngsten Versäumnissen zählt der Frauenrat die Nichtausweitung der nicht übertragbaren Elterngeldmonate, keine Lohnersatzleistung für pflegende Angestellte oder eine bezahlte Freistellung des zweiten Elternteils rund um die Geburt eines Kindes. Auch überfällige familienrechtliche Reformen wurden zu spät auf den Weg gebracht und die Kindergrundsicherung scheiterte.
Auf Grundlage des Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes gelang es über Jahrzehnte, Diskriminierungen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Arbeits-, Sozial-, Straf- und Familienrecht zu tilgen. Die 1994 in Kraft getretene Erweiterung des Art 3 Absatz 2 um das Gleichstellungsgebot verpflichtet den Staat, aktiv Maßnahmen zu ergreifen, um die Geschlechter gleichzustellen: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“