Der brutale russische Angriffskrieg auf die Ukraine vertreibt Millionen Menschen – viele von ihnen Frauen mit Sorgeverantwortung, die jetzt de facto alleinerziehend sind. Auch Deutschland nimmt Hunderttausende auf, die von der Bevölkerung mit großem Engagement willkommen geheißen werden.
Diese Frauen müssen hier nicht nur physisch ankommen, sie müssen Fuß fassen können – vorübergehend oder dauerhaft. Dafür müssen die Voraussetzungen jetzt geschaffen werden. Der Deutsche Frauenrat begrüßt, dass die Europäische Union im Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten eine neue humane und solidarische Praxis etabliert, die langjährigen Forderungen des DF zu Asyl-, Aufenthalts- und Verfahrensrecht entspricht. Diese neuen Standards müssen auch für Geflüchtete ohne ukrainischen Pass sowie für Geflüchtete aus anderen Konfliktregionen Anwendung finden.
Der DF hat bereits 2018 unter dem Titel „Alle mitnehmen“ einen umfassenden Forderungskatalog für eine gelingende Aufnahme und Integration von Frauen und Mädchen in Deutschlang vorgelegt. Im Folgenden findet sich eine Auswahl aktuell besonders relevanter Forderungen. Diese richten sich an die unterschiedlichen politischen Entscheidungs- und Verwaltungsebenen, an Wohlfahrtsträger, Bildungseinrichtungen, Parteien, Gewerkschaften und an die Zivilgesellschaft.
Schutzkonzepte und Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte
- Jede Geflüchteteneinrichtung muss ein Gewaltschutzkonzept vorhalten und benötigt dafür geschultes und verantwortungsvolles Personal in ausreichender Zahl. Dazu gehört auch weibliches Sicherheitspersonal. Notwendig sind klare und verbindliche interne Strukturen und externe Kooperationen, aber auch ein Risikomanagement zum Umgang mit Gewalt und Gefährdungssituationen. Die Umsetzung des Schutzkonzepts bedarf eines Monitorings.
- Die vom BMFSFJ vorgelegten Mindeststandards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen müssen bundesweit umgesetzt werden. Sie müssen den Erfordernissen der Istanbul-Konvention genügen. Die Regelungen des Gewaltschutzgesetzes und die entsprechenden Regelungen im jeweiligen Polizeirecht sind auch in Erstaufnahmeeinrichtungen und Sammelunterkünften konsequent anzuwenden.
- Barrierefreie Unterkünfte sind vorzuhalten.
- Alleinreisende Frauen dürfen nicht in gemischtgeschlechtlichen Sammelunterkünften untergebracht werden. Es sind ausreichend getrennte und geschützte Unterbringungsmöglichkeiten, vorzugsweise dezentral zur Verfügung zu stellen.
- In gemischten Unterkünften müssen ausreichend Schutz- und Rückzugsräume für Frauen und Mädchen vorgehalten werden. Auf abschließbare sanitäre Einrichtungen und Schlafzimmer ist zu achten.
- Es müssen geeignete Wohnungen für Frauen mit und ohne Familien bereitgestellt werden. Eine dauerhafte Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften ist zu vermeiden, da diese Wohnform Gewalt Vorschub leistet.
- Gesprächsrunden zum Thema Gewalt, Familie und Zusammenleben sowie Kultur und Freizeit sollten speziell für Männer in den Unterkünften angeboten werden.
- Die Mobilität von Frauen mit und ohne Kinder muss zum Beispiel durch Bereitstellen von Sozialtickets und entsprechenden Informationen gewährleistet werden.
Schutz und Unterstützung gegen Menschenhandel und Gewalt
- MitarbeiterInnen in Geflüchtetenunterkünften müssen regelmäßig geschult werden, um sie für das Erkennen von Menschenhandel zu sensibilisieren.
- MitarbeiterInnen der Fachberatungsstellen brauchen guten Zugang zu den Geflüchtetenunterkünften.
- Informationen über die Rechte von Frauen und über die bestehende Beratungsstruktur müssen bereitgestellt werden.
- Fachberatungsstellen müssen für die Übernahme dieser zusätzlichen Aufgaben angemessen ausgestattet werden.
- Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen muss auch unter den Geflüchteten bekannter gemacht werden.
- Auch für geflüchtete Frauen müssen Schutz und Hilfe in einem Frauenhaus ihrer Wahl gewährleistet sein. Ein schneller und unbürokratischer Zugang zu diesen Einrichtungen ist bundeseinheitlich zu regeln und zu finanzieren.
- Es müssen mehr Betreuungs-, Beratungs- und Unterbringungsmöglichkeiten angeboten werden, die den Traumatisierungen der Betroffenen entsprechen.
- Das Bündnis Istanbul-Konvention empfiehlt außerdem, die Durchführung von flächendeckenden Fortbildungen für sämtliches Personal, das mit Asylentscheidungen oder der Unterbringung und Versorgung geflüchteter Menschen betraut ist, zu Ursachen von (sexualisierter) Gewalt, Trauma(-folgen), sowie einem trauma- und rassismuskritischen Arbeitsansatz.
Erwerb der deutschen Sprache und Wertevermittlung
- Das Recht auf den Erwerb der deutschen Sprache muss diskriminierungsfrei für alle Geflüchteten, unabhängig von ihrer individuellen oder kollektiven Bleibeperspektive, gelten. Dabei muss
sichergestellt werden, dass alle Berechtigten frühestmöglich nach ihrer Ankunft an Sprachkursen teilnehmen können.
- Besonders für Frauen mit Kleinkindern müssen diese Angebote wohnortnah und mit entsprechender Betreuung organisiert werden.
- Darüber hinaus müssen alle geflüchteten Kinder umgehend nach ihrer Ankunft in der Schule aufgenommen werden. Entsprechende Kita-Angebote müssen bereitgestellt und ausgebaut werden.
- Neben Erstorientierung und Erwerb der deutschen Sprache müssen in Integrationskursen oder anderen Spezialkursen auch Themen wie Gleichberechtigung, Prävention, Recht und Schutz vor Gewalt, Rechtsansprüche, Werte, Religionsfreiheit u. a. behandelt werden. Dazu gehört zudem eine umfassende Wissensvermittlung über das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem und über die Voraussetzungen für den jeweiligen Zugang.
Gesundheitsversorgung
- Für alle Geflüchteten müssen eine menschenwürdige Gesundheitsprävention und -versorgung gewährleistet werden, die dem Standard der Weltgesundheitsorganisation gerecht werden.
- Schwangere Geflüchtete müssen zu allen Vorsorge- und Nachsorgeuntersuchungen Zugang erhalten. Eine kultursensible Begleitung der Schwangerschaft, der Geburt und des Wochenbettes durch Hebammen und FrauenärztInnen ist wichtig, um sowohl eine gesunde Schwangerschaft und Geburt als auch eine sichere Bindung zum Kind zu unterstützen.
- Das Anrecht auf eine Versorgung in der Schwangerschaft, während der Geburt und im Wochenbett durch Hebammen sowie auf Rückbildungskurse muss allen Frauen nach der Niederkunft gewährt werden.
- Geflüchtete sollen Verhütungsmittel kostenfrei erhalten.
- Geflüchtete brauchen kostenlose, flächendeckende Angebote zu psychologischer Beratung. In den Hilfs,- Beratungs,- und Unterstützungsstrukturen muss mehrsprachiges, kultursensibles und gut geschultes Fachpersonal vertreten sein.
- Eine flächendeckende Zusatzqualifikation in psychologischen Kenntnissen ist auch für alle DolmetscherInnen eine wichtige Voraussetzung für eine gute Begleitung von Geflüchteten, im Besonderen für Frauen und Kinder.
Bildung, Ausbildung und Beschäftigung
- Bei der Integration geflüchteter Frauen in den Arbeitsmarkt ist Schutz vor prekärer Beschäftigung zu gewähren. Ziel sollte es sein, eine nachhaltige und der Qualifikation angemessene Beschäftigung zu ermöglichen.
- Kenntnisse, Erfahrungen, Studienabschlüsse usw. müssen so rasch wie möglich analysiert und anerkannt werden.
- Eine gezielte Ansprache von Frauen, die familiär eingebunden sind, muss vorgenommen werden, um ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen. Niederschwellige Kurse, Ausbildungen in Teilzeit und Mentoring-Programme sollen ins Auge gefasst und eine entsprechende Kinderbetreuung angeboten werden.
Kulturelle, gesellschaftliche und politische Teilhabe
- Zur Umsetzung der UN-Sicherheitsratsresolution 1325 muss die Bundesregierung geflüchtete Frauen als Friedensstifterinnen und -verhandlerinnen stärken.
- Es müssen Empowerment-Projekte für geflüchtete Frauen und besonders für Mädchen durch die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung, durch Frauen- und MigrantInnenverbände, politische Parteien u. a. entwickelt und umgesetzt werden.
- Bewährte Projekte, die sich aus der Arbeit von und mit Migrantinnen entwickelt haben, müssen für die Arbeit mit geflüchteten Frauen nachhaltig gefördert werden.
- Geflüchtete Frauen müssen umfassend und mit den geeigneten Medien darüber informiert werden, welche Rechte sie haben (Erwerbstätigkeit, Freizügigkeit, Bildung, Scheidung, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung u. a.).
- Die Integration von Frauen und Mädchen ist im und durch Sport mit entsprechenden Maßnahmen und Projekten zu fördern.