Diese Expertise präsentiert einen praxisorientierten Ansatz für feministische Wirtschaftspolitik, indem sie bewusst entlang der klassischen wirtschaftspolitischen Ziele strukturiert ist, um die Lücken in der herkömmlichen Wirtschaftspolitik aufzuzeigen. Diese Ziele sind in Deutschland u.a. im Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967 definiert. Dabei wird deutlich, dass bei einigen Zielen bereits ein umfangreiches Wissen aus geschlechterbezogener Perspektive besteht, während andere Bereiche noch Lücken aufweisen. Es ist wichtig zu betonen, dass die genannten Ziele im Rahmen dieser Expertise zwar separat analysiert werden, aber in der Realität selbstverständlich miteinander verflochten sind und nicht isoliert betrachtet werden können. Darüber hinaus können diese Ziele oft nicht gleichzeitig erreicht werden, da sie häufig entweder oder gar miteinander im Konflikt stehen.
Stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum
- Die klassische Wirtschaftspolitik erfasst Wirtschaftswachstum anhand des Bruttoinlandsprodukts (BIP): Diese Kennzahl misst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum, üblicherweise einem Jahr, produziert werden. Es ist ein Maß für die wirtschaftliche Aktivität eines Landes und wird häufig verwendet, um den Wohlstand und das Wirtschaftswachstum zu bewerten, beinhaltet aber viele Leerstellen, wie beispielsweise unbezahlte Sorgearbeit.
- Die Messung des wirtschaftlichen Wohlstands eines Landes hat geschlechtsbezogene Dimensionen. Ein Beispiel: Unbezahlte Arbeit macht, wird sie mit einem fiktiven Lohn bewertet, etwa ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus (Schwarz/Schwahn 2016). Aktuelle Daten des Statistischen Bundesamtes (2024a) zeigen, dass Frauen im Jahr 2022 mehr unbezahlte Arbeit leisteten als Männer (durchschnittlich neun Stunden pro Woche). Diese Arbeit bleibt jedoch unsichtbar, da nur bezahlte Tätigkeiten ins BIP einfließen (Sesselmeier/Oswald 2011), obwohl Reproduktionsarbeit die Voraussetzung für jede wirtschaftliche Tätigkeit ist.
- Eine feministische Wirtschaftspolitik geht davon aus, dass eine geschlechtsbezogene Analyse des Wirtschaftswachstums vorgenommen werden muss, um eine langfristige und geschlechtergerechte Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erzielen und den Wohlstand für alle in einer Volkswirtschaft, zu verbessern.
Stabilität des Preisniveaus
- Die Stabilität des Preisniveaus signalisiert eine gleichbleibende Kaufkraft des Geldes, wobei die Inflationsrate über die Zeit hinweg stabil bleibt, jedoch nicht zwangsläufig bei null liegt. Warum ist dies von Bedeutung? Die Preisniveaustabilität in einer Volkswirtschaft ist entscheidend, um den Wert des Geldes und damit die Kaufkraft für Konsument*innen zu erhalten und um zentrale Rolle in der Wirtschaft und Gesellschaft zu bewahren.
- Die Preisniveaustabilität eines Landes hat geschlechtsbezogene Dimensionen. Ein Beispiel: Die privaten Konsumausgaben sind im Jahre 2022 inflationsbedingt gestiegen. Dabei entfielen knapp die Hälfte der Ausgaben auf Wohnen und Lebensmittel (Statistisches Bundesamt 2023a). Insbesondere Menschen mit geringem Einkommen treffen diese Preissteigerungen im alltäglichen Konsum stärker; ihnen bleibt kaum die Möglichkeit, monatlich zu sparen oder gar langfristig Kapital aufzubauen. Das Risiko der Einkommensarmut ist in Deutschland ungleich verteilt und weist intersektionale Geschlechterdimensionen auf: Frauen und Alleinerziehende sind besonders gefährdet, da das verfügbare Haushaltseinkommen oft nicht ausreicht, um die notwendigen Güter und Dienstleistungen für das zu decken. Im Jahr 2022 waren Frauen mit 17,7 Prozent stärker von Armut gefährdet als Männer (15,7 Prozent); für Alleinerziehenden (meistens Frauen) lag das Risiko bei 42,9 Prozent (Statistisches Bundesamt 2023b).
- Eine feministische Wirtschaftspolitik beleuchtet die Aspekte Darüber hinaus liefert sie Erkenntnisse zu geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Inflation.
Hoher Beschäftigungsgrad
- Ein weiteres zentrales Anliegen der Wirtschaftspolitik ist Vollbeschäftigung, was bedeutet, dass die Anzahl der verfügbaren Arbeitsplätze in der Wirtschaft mit der Anzahl der Arbeitssuchenden übereinstimmt. Da es jedoch immer eine gewisse Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt gibt, ist Vollbeschäftigung bereits erreicht, wenn die Arbeitslosenquote bei zwei bis drei Prozent liegt (Weber 2014). Jedoch ist die Berücksichtigung der Art und des Umfangs der Beschäftigung entscheidend, da die bloße Anzahl der Erwerbstätigen allein keine Aussage darüber trifft, Personen, die lediglich einer geringfügigen Tätigkeit (Minijob) nachgehen, zählen zwar als erwerbstätig, aber nicht sozialversichert. Frauen waren 2021 1,5-mal häufiger geringfügig beschäftigt als Männer (Pfahl et al. 2023a).
- Geschlechtsbezogene Arbeitsmarktanalysen machen geschlechtsspezifische Unterschiede und Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt sichtbar. Ein Beispiel: Der Equal Pay Day markiert symbolisch den Tag im Jahr, bis zu dem Frauen im Durchschnitt arbeiten müssen, um das zu verdienen, was Männer bis zum Ende des Vorjahres verdient haben. Für das Jahr 2024 markierte der 6. März dieser Tag, der die bestehende geschlechtsbezogene Einkommenslücke verdeutlicht. Die geschlechtsbezogene Einkommenslücke betrug demnach 18 Prozent.
- Eine feministische Wirtschaftspolitik eröffnet einen umfassenden Blick auf die komplexen Dynamiken des Arbeitsmarktes und hebt dabei die vielfältigen Herausforderungen hervor, denen Frauen und Männer in unterschiedlicher Weise gegenüberstehen. Diese Perspektive erkennt an, dass Ungleichheiten nicht nur in den traditionellen Rollenverteilungen zwischen den Geschlechtern begründet liegen, sondern auch in den strukturellen Barrieren und sozialen Normen, die den Zugang zu Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und beruflicher Entwicklung beeinflussen.
Ausgeglichenes außenwirtschaftliches Gleichgewicht
- Wirtschaftspolitik strebt ferner nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Importen und Exporten. Dies bedeutet, dass die der Güter und Dienstleistungen, die ein Land einführt, im Einklang mit der Menge der Güter und Dienstleistungen stehen sollte, die es ausführt. Ein solcher Ausgleich ist von großer Bedeutung für die Stabilität der Handelsbilanz eines Landes, dessen wirtschaftliche Gesamtlage und Wettbewerbsfähigkeit auf dem internationalen Markt dadurch geprägt werden.
- Der Außenhandel weist geschlechtsspezifische Aspekte auf, die sowohl die Partizipation von Frauen als auch die Auswirkungen des internationalen Handels auf jene betreffen. Ein Beispiel für den ersten Aspekt: Der Frauenanteil in exportorientierten Branchen wie dem Fahrzeug- oder Maschinenbau und der chemischen Industrie betrug im Jahr 2021 lediglich zwischen 12 und 21 Prozent der Vollzeitbeschäftigten. Diese geringe Präsenz von Frauen verdeutlicht, dass sie möglicherweise weniger von den wirtschaftlichen Vorteilen einer exportorientierten Wirtschaftspolitik profitieren, insbesondere in Bezug auf Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Einkommen in diesen Bereichen.
- Eine feministische Wirtschaftspolitik betrachtet den Außenhandel ganzheitlich und reflektiert die verschiedenen Facetten, die Importe und Exporte betreffen, und die sich in unterschiedlicher Weise auf Frauen und Männer auswirken. Diese Perspektive erkennt die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt für Import- und Exportwaren an.
Gerechte Verteilungspolitik
- Verteilungsgerechtigkeit ist von grundlegender Bedeutung, um allen Mitgliedern einer Volkswirtschaft gleichen Zugang zu finanziellen, sozialen und infrastrukturellen Ressourcen zu ermöglichen. Doch ist die Realisierung von Verteilungsgerechtigkeit nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch entscheidend für die Wirtschaftspolitik: Sie stärkt die Konsumnachfrage, sie setzt Anreize für alle in der Gesellschaft, sich an wirtschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen und ihre Fähigkeiten und Talente einzusetzen, was wiederum das langfristige Wirtschaftswachstum fördert. Insgesamt kann der Staat durch eine Kombination von (Umverteilungs-)Maßnahmen im Bereich der Steuer- und Transferpolitik sowie im Bereich der Infrastrukturpolitik die Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft verbessern und sicherstellen, dass sie möglichst allen Menschen zugutekommt.
- Die Verteilungspolitik ist nicht unabhängig vom Geschlecht. Ein klassisches Beispiel dafür sind die Folgen der Steuerklassen im Lohnsteuersystem. Das Ehegattensplitting bedeutet nicht nur einen geringeren unterjährigen Nettolohn für den bzw. die Partner*in mit dem geringeren Einkommen (meist Frauen, siehe geschlechtsbezogene Lohnlücke), sondern es führt auch zu einer Benachteiligung beim Transfersystem, genauer bei den Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosen-, Eltern- oder Krankengeld (Spangenberg et al. 2020: 19). Die Folgen einer geschlechterungerechten Steuer- und Transferpolitik sind teilweise wiederum ausschlaggebend dafür, dass Frauen mehr unbezahlte Arbeit leisten als Männer. Wer mehr unbezahlte Arbeit leistet, verdient weniger und wählt in Paarhaushalten die Steuerklasse V. Aus diesem Zirkelschluss kann nur eine umfassende Steuerreform, weg vom Ehegattensplitting, hin zur Individualbesteuerung für alle führen. Dies stärkt nicht nur die wirtschaftliche Eigenständigkeit von Frauen, sondern kann auch in vielen Fällen vor Altersarmut bewahren.
- Eine feministische Verteilungspolitik zielt auf eine geschlechtergerechte Verteilung der Ressourcen. Hierfür bedarf es der Umsetzung einer entsprechenden Umverteilungspolitik, die unbezahlte Sorgearbeit und bezahlte Lohnarbeit gleichermaßen berücksichtigt. Zudem müssen Zugangsbarrieren zu sozialstaatlichen Leistungen abgebaut werden.
Ökologische Nachhaltigkeit
- Klimapolitische Themen werden in dieser Expertise nicht näher beleuchtet, da sie aktuell bereits im Rahmen des Vierten Gleichstellungsberichts der Bundesregierung genauer untersucht werden.
Grundsätzlich sind nur vier der angestrebten Ziele gesellschaftspolitisch verankert: 1) Moderates Wirtschaftswachstum wird angestrebt, um den Lebensstandard der Bevölkerung zu halten oder gar zu verbessern. 2) Vollbeschäftigung ist entscheidend in einer Gesellschaft, in der sowohl das Einkommen als auch der soziale Status stark von der Integration in den Arbeitsmarkt abhängen. 3) Verteilungsgerechtigkeit soll dazu beitragen, Armut und große Einkommensunterschiede zu verhindern und diese in Einklang mit den Gerechtigkeitsvorstellungen einer Gesellschaft zu bringen. 4) Das ökologische Argument einer feministischen Wirtschaftspolitik beruht nicht nur auf der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen und der Realisierung von Generationengerechtigkeit, wie sie 2021 vom Bundesverfassungsgericht angemahnt wurde (BVerfG 2021). Es geht auch um die sogenannte intragenerationale Verantwortung: Menschen im Globalen Süden, aber auch arme, kranke oder alte Menschen in Deutschland können sich nicht im gleichen Maße gegen die Folgen des Klimawandels schützen wie privilegierte Menschen.
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[1] Dazu gehören neben Nahrung, Kleidung und Hausrat auch die Ermöglichung von sozialer, kultureller und politischer Teilhabe. Diese Gewährleistung ist im Grundgesetz und im Sozialstaatsprinzip verankert.