Die ersten Zahlen einer repräsentativen Umfrage zum Thema häusliche Gewalt während der Coronakrise sind erschreckend. Die Studie belegt, dass bei Familien und Paaren, die in Quarantäne lebten oder finanzielle Sorgen hatten, es oft zu häuslicher Gewalt kam. 7,5% der Frauen in Quarantäne berichteten von Gewalt. Die Zahlen zeigen erneut: Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein großes gesellschaftliches Problem, das uns alle angeht.
Auch vor Corona war das Hilfesystem für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen völlig überlastet: Es gibt viel zu wenig Frauenhausplätze, Beratungsstellen sind unterfinanziert, das Angebot für Frauen in ländlichen Gebieten, Frauen mit Behinderung oder auch Frauen mit Migrationshintergrund ist oft ungenügend. Viele Maßnahmen und Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verschärfen diese Missstände: Frauenhäuser sind nicht zugänglich, weil sie geschlossen werden oder aufgrund der Hygienemaßnahmen noch weniger Frauen aufnehmen, Beratungsstellen sind schwer zu erreichen. Dazu kommt, dass die überwiegend weiblichen Beschäftigten im Gewaltschutzsystems nicht überall als systemrelevant eingestuft werden. Mitarbeiterinnen fallen aus, weil sie Erziehungs- und Sorgearbeit zu Hause übernehmen oder sie zur Corona-Risikogruppe gehören und zu Hause bleiben müssen. Es fehlt an kurzfristigen Lösungen für all diese Probleme. Der Staat ist aber verantwortlich für den Schutz vor Gewalt – gerade auch in Krisenzeiten.
Aufmerksamkeit und Sensibilität für das Thema Gewalt in unserer Gesellschaft sind jetzt noch mehr als sonst gefragt. Dies gilt auch für das eigene Umfeld, z.B. in der Nachbarschaft oder der Familie. Achtsamkeit und beherztes Handeln, wenn Gewalt wahrgenommen wird, können für Betroffene eine große Hilfestellung sein.
Zu einer größeren Aufmerksamkeit und zu einer besseren Wahrnehmung tragen auch breit zur Verfügung gestellte Informationen über Hilfsangebote tragen bei. Der Deutsche Frauenrat unterstützt die von Bundesfrauenministerin Giffey gestartete Kampagne gegen häusliche Gewalt „Zuhause nicht sicher?“. Bundesweit werden in zehntausenden Supermärkten Poster aufgehängt, die über die Initiative und Hilfsangebote informieren. Alle Informationen und Möglichkeiten sich zu beteiligen sind auf www.staerker-als-gewalt.de zu finden. Doch klar ist auch: Mehr Aufmerksamkeit für Hilfsangebote alleine reicht nicht.
Während alle über die wirtschaftlichen Folgen der Krise sprechen, wird Gewalt gegen Frauen und Kinder im Zusammenhang mit Corona kaum thematisiert, wie eine Untersuchung der MaLisa Stiftung ergab. Das spiegelt sich leider auch in politischen Entscheidungen wider. Mit den beschlossenen Corona-Konjunkturpaketen werden viele Milliarden Euro investiert, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abzumildern. Zusätzliche Finanzmittel für die Gewaltprävention und für das Hilfesystem werden nicht bereitgestellt.
Expert*innen gehen insgesamt davon aus, dass die Zahl Gewaltbetroffener noch ansteigen wird. Dies gilt z.B. auch für Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften. Weil sehr viele Bewohner*innen mit unsicherer Perspektive und unter enormem Stress auf engem Raum zusammenleben, kam es bereits vor Corona zu Gewalt in den Unterkünften. Alle Bewohner*innen von Gemeinschaftsunterkünften bei Verdachtsfällen unter Quarantäne zu stellen, ist aus Gewaltschutzperspektive deshalb besonders problematisch.
Beim Thema Gewalt spielt die Digitalisierung eine immer größere Rolle. Das hat auch in der Coronakrise konkrete Auswirkungen auf die Gewaltsituation, wie die OECD in ihren Analysen zu Covid19 feststellt. Digitale Tools geben demnach Gewalttätern die Möglichkeit, mehr Kontrolle auszuüben, indem sie Smartphones oder Computer kontrollieren. Gleichzeitig bietet die Digitalisierung Möglichkeiten für Frauen, der Gewalt zu entkommen, indem sie z.B. digitale Beratungsangebote der Hilfestrukturen wahrnehmen. Doch mangelt es hier bei vielen Beratungsstellen an Möglichkeiten und Mitteln schnell auf z.B. datensichere und einfache Onlineberatung umzustellen.
Die Politik ist gefragt, auf die massiven Folgen der Pandemie beim Thema Gewalt schnell und unbürokratisch zu reagieren. Die Bedarfe in den Hilfestrukturen gegen Gewalt steigen und müssen besser finanziert werden. Dringend nötig sind zusätzliche Finanzmittel vom Bund, die nicht im letzten Bundeshaushalt einkalkuliert waren. Damit die Hilfestrukturen bestmöglich arbeiten können, benötigen sie außerdem mehr Personal. Eltern, die im Hilfesystem arbeiten, sollten deshalb bundesweit als systemrelevant eingestuft werden, womit sie Anspruch auf die Notfall-Kinderbetreuung hätten.
Bei politischen Debatten und Entscheidungen rund um Corona werden die Perspektiven und die Situation Geflüchteter vernachlässigt. Aufgrund ihrer besonderen Situation sind aber gerade geflüchtete Frauen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, besonders schutzbedürftig (Artikel 12 der Istanbul Konvention), da Gewaltschutz unter diesen erschwerten Bedingungen kaum zu gewährleisten ist. Alle Maßnahmen zur Eindämmung von Corona in den Unterkünften sollten deshalb Gewaltschutzkonzepte berücksichtigen.
Für Frauen bedeutet die Inanspruchnahme von digitaler Beratung oft eine große Umstellung. Es fällt von Gewalt betroffenen Frauen leichter, sich anzuvertrauen und unangenehme Dinge auszusprechen, wenn sie ihrer Beraterin persönlich gegenübersitzen. Darauf und auf die technischen Herausforderungen muss der Bund mit Investitionen in den Ausbau der digitalen Beratung reagieren.
Teil 1: Für eine geschlechtergerechte Krisenpolitik
Teil 2: Finanzen fair verteilen – Für eine gerechte Konjunktur
Teil 3: Systemrelevant und (un)verzichtbar: Trägerinnen und Verliererinnen eines Systems