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Gesundheitsversorgung und Pflege in Würde – auch unter Corona

Thema "Corona" | 30. Juni 2020

Wir stellen fest:

Die Corona-Pandemie macht weltweit deutlich, wie überlebenswichtig ein funktionierendes Gesundheitssystem ist. In der Krise wird dieses System um ein Vielfaches gegenüber der „Normalität“ belastet.

Diese Belastung trifft Frauen besonders schwer: als medizinisches und Pflegepersonal, als Schwangere und Mütter, als Pflegende, als Pflegebedürftige. Mehr als Dreiviertel des medizinischen Personals und mehr als zwei Drittel der pflegenden Angehörigen sind Frauen. In der Krise sind nicht nur ihre ohnehin physischen und psychischen Belastungen enorm gestiegen, erhöht hat sich für sie auch das Infektionsrisiko. 11 Prozent der gemeldeten Infizierten arbeiten laut Robert-Koch-Institut in Medizin und Pflege. Schutzmaterial fehlt nicht nur in der stationären, sondern auch in der ambulanten Versorgung. Der ambulante Bereich, wie z.B. Pflegedienste und Hebammen, hatten zum Teil keinen Rechtsanspruch auf Schutzkleidung und wurden bei der Bedarfsplanung in vielen Regionen zunächst übersehen. Über Wochen und Monate erfolgten Arbeitsschutzmaßnahmen vielerorts nur unterhalb der notwendigen Standards.

Auch wenn pflegende Frauen aktuell als „Heldinnen des Alltags“ gefeiert werden, fallen ihre Interessen und Bedürfnislagen zu oft unter den (Verhandlungs-)Tisch. Maßnahmen zur Stärkung der öffentlichen Pflegeinfrastruktur im Rahmen der Konjunkturpolitik fehlen genauso wie der Ausgleich von Lohneinbußen wegen Mehrbelastungen durch die häusliche Pflege.

Schwangerschaft und Geburt

Für Schwangere, Neugeborene und ihre Familien hat die Corona-Krise gravierende Auswirkungen: Es ist noch schwieriger, eine Hebamme zu finden, Beratungsangebote zu Schwangerschaft und Geburtsvorbereitungskurse werden zurückgefahren oder fallen ganz aus, die Sorge vor Ansteckung führt zu Verunsicherung, die Bedingungen bei Vorsorgeuntersuchungen sind erschwert, und es gibt erhebliche Einschränkungen während der Geburt. In einigen Krankenhäusern gelten Besuchsverbote auch für Geburts- und Kinderstationen. Werdende Väter oder eine andere Begleitperson sind im Kreißsaal nicht zugelassen oder dürfen nur während der Endphase der Geburt anwesend sein. Diese Unsicherheit und das Gefühl des Alleingelassenseins können nachhaltige Folgen für den Geburtsverlauf und das Geburtserlebnis sowie die kommenden Wochen und Monate für Mutter, Vater und Kind haben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont, dass eine selbstgewählte Begleitperson während der Geburt für eine sichere und positive Geburtserfahrung notwendig ist. Das Recht darauf darf Frauen auch während der Pandemie nicht verwehrt werden. Auch Regelungen, die Gebärende zwingen während der Geburt einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, sind nicht hinnehmbar.

Zugang zu Verhütungsmitteln

Gerade in Krisenzeiten müssen sexuelle und reproduktive Rechte gewahrt werden. Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) warnt davor, dass weltweit durch die Corona-Krise 47 Millionen Frauen den Zugang zu Verhütungsmitteln verlieren. Die Folge sind schätzungsweise sieben Millionen ungewollte Schwangerschaften und damit einhergehend wachsende Armut und Hunger sowie Zwangs- und Kinderehen.

Pflegeeinrichtungen und pflegende Angehörige

Deutlich mehr Frauen als Männer werden zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen gepflegt. Während der Corona-Pandemie wurden dort strikte Kontaktbeschränkungen angeordnet. Heimbewohner*innen mussten über Wochen auf ihren gewohnten Besuch oft ganz verzichten und litten mehr als sonst an Vereinsamung. Trotz dieser Isolation brach in zahlreichen Pflegeheimen das Virus aus und es gab überdurchschnittlich viele Todesfälle, denn effektive Hygienekonzepte fehlten weitgehend.

Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen mussten ihre Öffnungszeiten wegen der hohen Infektionsgefahr des Pflegepersonals und der Pflegebedürftigen reduzieren oder komplett schließen. Auch bei den ambulanten Pflegediensten kam es zu Versorgungslücken. Damit fiel ein wichtiges Entlastungsangebot für erwerbstägige pflegende Frauen weg, die bereits den Großteil der Sorgearbeit in ihren Familien stemmen. Viele Frauen mussten wegen der Versorgung ihrer Angehörigen ihre Erwerbstätigkeit ohne jede Entschädigungszahlung reduzieren oder gar unterbrechen. Viele begaben sich in strikte soziale Isolation, um das große Infektionsrisiko ihrer Pflegebedürftigen nicht zu erhöhen. Für Eltern, die ihre Kinder mit Behinderungen erziehen und pflegen, gab es noch weniger schulische Angebote als für Kinder ohne Behinderungen.

Eine Ursache für die Zurückhaltung bei staatlichen Unterstützungsleistungen in der Pflege ist der Vorrang der häuslichen Pflege durch Angehörige und Nachbar*innen im Sozialrecht. Der Erste und der Zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung werten dies als strukturellen Nachteil für Frauen mit Pflegeverantwortung zu Lasten ihrer Erwerbstätigkeit.

Medizinische Versorgung von Frauen mit Behinderungen

Frauen mit Behinderungen erleben vielfältige, intersektionale Diskriminierungen. Die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen zeigte bereits vor der Corona-Krise spezifische Hürden beim Zugang zu gesundheitlichen Diensten, Einrichtungen und gesundheitsrelevanten Informationen. Durch die Pandemie ist das Recht auf Assistenz bei Krankheit eingeschränkt oder gar nicht umsetzbar und das gleiche Recht auf intensivpflegerische und lebensrettende Maßnahmen gefährdet.

Was jetzt getan werden muss:

Gesundheitssystem krisenfest machen

Das Gesundheitssystem muss auf Krisen vorbereitet werden. Genügend Intensivbetten sind dafür zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung. (Pflege-)Personal muss nicht nur für den Ausnahmezustand in ausreichender Zahl bereitstehen. Die gesamte Struktur des Gesundheitswesens, Prozesse und Verantwortlichkeiten müssen neu justiert werden. Dafür ist ein Paradigmenwechsel notwendig: Das Gesundheitswesen ist staatliche Daseinsvorsorge und darf nicht länger marktwirtschaftlichen Interessen folgen, sondern muss der Gesundheit der Menschen ungeachtet ihres Geschlechts und ihrer sozialen und ethnischen Herkunft dienen.

Geburtshilfe sicherstellen

Deutschlandweit wurden seit den 90er Jahren rund 40% der Kreißsäle geschlossen. Seit Jahren sind die Arbeitsbedingungen in der stationären Geburtshilfe mangelhaft. Hier denken mehr als 40% der Hebammen über eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit nach; ein Viertel von ihnen zieht in Erwägung, den Beruf ganz aufzugeben. Aus der Krise muss folgen, dass alle Bereiche der Frauengesundheit gestärkt werden. Dazu gehört auch, dass Schwangere, Gebärende und ihre Säuglinge jederzeit gut betreut und medizinisch versorgt werden. Die Rechte von Schwangeren müssen auch während einer Pandemie gewährleistet werden.

Sorgeberufe aufwerten

Die gesellschaftspolitische Bedeutung der sorgenden Tätigkeiten in Krankenhäusern, in Seniorenheimen und anderen Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen muss deutlich herausgestellt und ihre Attraktivität für neue Arbeitskräfte gefördert werden: durch angemessene Löhne und durch Ausbildungsvergütung statt Schulgeld, durch bessere Qualifizierungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Und nicht zuletzt durch gute Arbeitsbedingungen, die auch die Gesundheit der Beschäftigten schützen.

Pflegende Angehörige unterstützen

Die im Mai 2020 beschlossenen Akuthilfen des Bundes reichen bei Weitem nicht aus, da der zusätzliche Pflegeaufwand mittlerweile über viele Monate anhält. Eine Verdoppelung des Pflegeunterstützungsgeldes von 10 auf 20 Tage ist nicht ausreichend. Eine Verdienstausfallentschädigung für diejenigen, die durch die Schließung von Tagespflegeeinrichtungen Lohnausfälle haben, muss auch für Pflegende kommen. Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ist wie die Vereinbarkeit von Kindererziehung und Beruf eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – zu jeder Zeit. Dem Wunsch vieler Pflegebedürftiger zu Hause gepflegt zu werden, kann auch mit einem erweiterten öffentlichen Angebot ambulanter Pflegeleistungen entsprochen werden.

Pflegeinfrastruktur ausbauen

Geschlechtergerechte Investitionen über die Krise hinaus müssen den Ausbau von Kurzzeit- und Tagespflegeangeboten sowie weiterer unterstützender wohnortnaher Infrastruktur in Angriff nehmen. Frauen reduzieren in der Corona-Pandemie häufiger ihre Arbeitszeit als Männer. Die Stärkung der öffentlichen Pflegeinfrastruktur als mittelbarer Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege und die Professionalisierung der Pflege stehen schon lange auf der gleichstellungspolitischen Agenda. Alle Seiten würden profitieren: Gesellschaft und Wirtschaft profitieren von den erwerbstätigen Frauen, besser bezahlte Sorgeberufe steigern das Steueraufkommen und die Kaufkraft, Pflegebedürftige können mit professioneller Pflege länger zuhause leben.

Wir fordern:

  • ein geschlechtergerechtes und diskriminierungsfreies Gesundheitswesen
  • das Recht auf reproduktive und sexuelle Gesundheit und Selbstbestimmung – besonders für Mädchen und junge Frauen in Krisenzeiten
  • die Aufwertung von Pflege- und Gesundheitsberufen durch erheblich bessere Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen
  • die Einhaltung des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards für medizinisches und Pflegepersonal
  • den Ausbau der öffentlichen Pflegeinfrastruktur
  • eine Verdienstausfallentschädigung auch für pflegende Angehörige
  • die Repräsentanz und Mitsprache von Pflegeberufen, medizinischen Fachberufen und Hebammen in Entscheidungsgremien.

Geschlechtergerecht aus der Krise

Teil 1: Für eine geschlechtergerechte Krisenpolitik

Teil 2: Finanzen fair verteilen – Für eine gerechte Konjunktur

Teil 3: Systemrelevant und (un)verzichtbar: Trägerinnen und Verliererinnen eines Systems

Teil 4: Mit einer feministischen Aussenpolitik und internationaler Zusammenarbeit weltweit gegen Corona

Teil 5: Gewalt gegen Frauen: Das Problem wird größer

Teil 6: Mehr Frauen für eine starke Demokratie

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